Zeitungsartikel Neue Westfälische vom 13.03.2019 Schreiben lernen fürs Leben Quelle: Neue Westfälische vom 13.03.2019

Von Ingo Müntz

Gütersloh. „Ich war immer lesefaul“, sagt Harry S. (alle Häftlingsnamen geändert). „Zudem habe ich eine Leseschwäche. Schwierig war es immer, meinem Sohn eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen, die er so gerne mag. Darum ist es jetzt so positiv, diese Zeit mit Lesen lernen aufzufüllen“, sagt er und lächelt hinter der Brille. Mit weiteren neun Häftlingen sitzt Harry S. im Seminarraum der Justizvollzugsanstalt.

Hier in Ummeln ist heute VHS-Dozent Rolf Haug-Benien im Ring. Am riesigen Touch-Screen lehrt er im offenen Vollzug Deutsch lesen und schreiben. Von den zehn Teilnehmern hat die Mehrheit ausländische Wurzeln. „Das ist unerheblich, da ich mit dem computergestützten Alphabetisierungsprogramm Menschen mit und ohne deutschen Hintergrund schulen kann.“

Unter dem Oberbegriff „Küche“ geht es heute zunächst um einfache Wörter. Freiwillige vor. Aus dem Salz wird anfangs mal „Zals“, aus Petersilie gerne mal „Peterzilieee“. Richtig anspruchsvoll ist am Bildschirm dann doch der „Chikorie“, der nach erklärender Anleitung durch Haug-Benien zum korrekten Chicoree wird.

Die Teilnehmer nehmen am Alphabetisierungskurs teil, der in Kooperation mit der VHS Gütersloh zwei mal pro Woche stattfindet. Dieser Alphabetisierungskurs ist die Grundlage für den aufbauenden „Sprachkurs auf Niveau A1“. Alles muss seine Ordnung haben. „Wir haben an der Ausschreibung der Kurse durch die JVA teilgenommen und haben die Aufträge bekommen“, sagt Birgit Osterwald. Die scheidende Leiterin der VHS weiter: „Es ist heute tatsächlich nichts Besonderes mehr, dass die VHS in die Justizvollzugsanstalt geht, um zu schulen.“ Dennoch ist auch für sie die Situation immer noch besonders. „So viele reißen sich auch nicht unbedingt um diese Aufträge. Zum einen sind die Erfolge zum Teil nicht so schnell sichtbar.“ Zum anderen, sagt sie einige Zeit später, sei vor allem die Arbeit im geschlossenen Vollzug ziemlich beklemmend.

Daniel kommt an die digitale Tafel. Dicke weiße Schriftdrucke ziehen sich über seine Hose und den Hoodie. Bis jetzt ist es noch erstaunlich ruhig und konzentriert im Raum. MitdenüblichenAusreden,die fast an die Schulzeit erinnern, geht er nach vorne. „Ich bin halt Legastheniker“, sagt er, lacht entschuldigend und beginnt das Wort Tortellini zu schreiben. „Das lange ’e’ muss aber weg“, sagt Haug-Benien und schaut Daniel aufmunternd an. Der steht vor seinem „Tortelieni“ und korrigiert. Das anschließend geschriebene „Butterbrot“ fällt dann aber so stark nach rechts ab, dass der Dozent Nachbesserung fordert.

Dozenten von außen bringen eine andere Normalität mit

Gerade im offenen Vollzug, also dem Übergang in die Freiheit, sei es sehr hilfreich, wenn Dozenten von außen kämen, sagt Andreas Scheffer, Bereichsleiter der JVA. „Sie bringen eine andere Form von Normalität in die JVA.“ Es könne als Vorbereitung für draußen helfen, ergänzt Leiterin Kerstin Höltkemeyer-Schwick, während sich Ramon R. am Bildschirm müht. Eine Audiodatei wird ihm vorgesprochen, er muss die angezeigten Silben zusammenfügen. Der 32-jährige hat nie eine Schule besucht, nie Lesen oder Schreiben gelernt. „Ich bin Deutscher und Zigeuner“, sagt er. „Bei mir geht aktuell das Schreiben besser als das Lesen. Für mich ist das wichtig, um draußen arbeiten zu können, ich will nicht wieder rückfällig werden.“

Noch neun Monate habe er vor sich, erzählt von seinen Kindern und der fast vierjährigen Haftstrafe. Nachbar Harry S. ergänzt: „Wir helfen uns gegenseitig“, sagt er und Rolf Haug-Benien nickt zustimmend. „So ruhig wie heute ist es selten. Meistensrufensie sich die Hilfe direkt zu. Muss wohl am Besuch liegen.“ Harry S. war 18 Monate eingeschlossen. Jetzt plant er noch den Aufbaukurs mitzunehmen. „Uns hilft auch, dass wir parallel zur Tafel auf den Laptops arbeiten können, die wir für den Unterricht zur Verfügung haben“, sagt er und erzählt von seiner Kindheit in Venezuela und Australien. Und dass er jetzt seit drei Monaten im Kurs sei und „jetzt öfter in die Bibliothek gehe als früher. Ein Buch, für das ich früher zwei Wochen gebraucht habe, lese ich jetzt in drei oder vier Tagen durch“, sagt er. Der Dozent schickt die Teilnehmer in die Pause. Die Sonne, Zigaretten und Gespräche füllen die Zeit aus.