Zeitungsartikel Neue Westfälische vom 20.03.2019 Alte Männer hinter Gittern Quelle: Neue Westfälische vom 20.03.2019

Von Andreas Boueke

Bielefeld. „Das hier sind die Duschen und Gemeinschaftstoiletten. Auf den Hafträumen gibt es keine“, erklärt Frank Baucke, uniformierter Mitarbeiter der größten offenen Justizvollzugsanstalt Europas, der JVA Senne. Baucke führt durch die Abteilung für lebensältere Gefangene. Solche Einrichtungen gibt es mittlerweile in mehreren Bundesländern. Es wird dort auf die speziellen Bedürfnisse älterer Menschen eingegangen.

Die zwei Etagen mit ihren 87 Haftplätzen gehören zur bundesweit größten Abteilung für Gefangene ab 60 Jahren. Auf den Fluren gibt es genug Raum für Rollatoren, neben den Toiletten sind Haltegriffe angebracht, in den Duschen stehen Sitzhocker. Die Zellenfenster haben keine Gitterstäbe. Das Gefängnispersonal soll eine menschenwürdige Behandlung der älteren Männer sicherstellen. Besonders arbeitsintensiv ist die Betreuung verletzungsanfälliger Häftlinge.

Keine Lust auf Kontakt zu Mithäftlingen

Frank Baucke öffnet die Tür der Zelle des Gefangenen Bruno Hesse. Der Mann sitzt in weißem Unterhemd auf seiner Bettkante. Ein großer Bluterguss ziert sein Gesicht. Zwei Tage zuvor ist er während eines Ausgangs gestürzt. „Die Wunden sind aber noch grün und blau“, bemerkt Baucke. „Der Arzt hat aber nichts gefunden“, antwortet der Häftling. „Sie wissen nicht, weshalb Sie umgefallen sind?“ „Weil icham Morgen nur einen Kaffee getrunken habe.“ „Das ist nicht genug, Herr Hesse. Sie müssen trinken, trinken, trinken. Nicht Kaffee, sondern Wasser.“

Bruno Hesse hat Schmerzen, freut sich aber über den Besuch von Frank Baucke. „Ich bin 75 Jahre alt. Viele von den anderen Gefangenen hier sind schon dabei, wieder zu verkindlichen“, sagt er. „Mit den wenigsten kann man sich vernünftig unterhalten.“

Seit seine zweite Frau vor einem Jahr gestorben ist, verbringt Hesse die meiste Zeit allein in seinem Haftraum, obwohl die Tür jeden Morgenum 6 Uhr aufgeschlossen wird. Tagsüber können sich die Männer auf dem weitläufigen Gelände der JVA frei bewegen. Abends um 21 Uhr wird nachgezählt. Dann ist Einschluss. Hesse aber hat keine Lust auf Kontakte zu Mithäftlingen. „Ich hab Angst, dass ich depressiv werde, weil ich ja keine Ansprechpartner mehr habe. Mit den Knackis zu reden, ist für mich unakzeptabel. Davon hatte ich genug in meinem Leben. Ich war über 30 Jahre im Knast. Jetzt habe ich noch zweieinhalb Jahre vor mir.“

Heute macht Bruno Hesse den Eindruck eines hilfsbedürftigen alten Mannes, aber früher war er mal ein gewiefter Bankräuber. Im Rentenalter hat er etwas Neues versucht. „Ich habe Drogen gefahren, von Holland nach Deutschland. Das waren größere Mengen, ein Kilo Koks und drei Kilo Gras.“ Seine Strafe hält er für zu hoch. „Im Vergleich zu meiner kriminellen Vergangenheit sind solche Drogenfahrten Kleinigkeiten. Aber ich kann halt keine Banküberfälle mehr machen. So ist das eben. Das war mein Leben und dafür habe ich gebüßt.“

Nicht wenige Häftlinge der Abteilung haben alterstypische Beschwerden: erste Anzeichen von Demenz, Diabeteserkrankungen, Kreislaufund Herzprobleme. Notwendige Behandlungen übernehmen ein eigens dafür angestellter Arzt und ein Krankenpfleger. Um die psychische Gesundheit der Männer kümmern sich zwei Seelsorgerinnen. Die katholische Pastoralreferentin Daniela Bröckl arbeitet seitneunJahrenimGefängnis. Die älteren Häftlinge beschäftigen sich häufig mit ähnlichen Fragen, sagt sie: „Warum bin ich noch auf die schiefe Bahn geraten? Wieso habe ich das meiner Familie, meiner Frau, meinen Angehörigen angetan?“

Die deutsche Bevölkerung wird im Schnitt immer älter und so auch die Population in den Gefängnissen. Daniela Bröckl aber meint, soziale Faktoren würden mindestens ebenso sehr zum Anstieg der Zahl älterer Häftlinge beitragen wie der demografische Wandel. Als Beispiel nennt sie zunehmende Altersarmut: „Leute, die auf irgendeine Weise ihre Wohnung verlieren, landen auf der Straße und werden straffällig. Das gibt es wirklich. Aber es kommen auch Männer hierher, die ihr Leben lang viel Geld hatten und dann irgendwann die Grenze überschreiten und gegen das Gesetz verstoßen. Internetbetrug zum Beispiel oder Insolvenzverschleppung.“

Alle Insassen der Abteilung für lebensältere Gefangene sind lockerungsgeeignet. Bei ihnen besteht kein Flucht- oder Missbrauchsrisiko. Bruno Hesse war überrascht, als er hierher verlegt wurde. So gute Bedingungen hatte er während seiner früheren Gefängnisaufenthalte nirgendwo erlebt. „Sowas gab es früher nicht. Das Wichtigste ist, dass man seinen Ausgang gestalten kann wie man will und Urlaub bekommt.“

Aber wohin können die Männer gehen? Für viele hat sich das ehemalige soziale Umfeld im Laufe der Haftjahre deutlich verändert. Manchmal verschwindet es sogar vollkommen. Freunde und Angehörige sterben. Es gibt keine Wohnung mehr, in die sie zurückkehren können. Sie brauchen Unterstützung und Zuspruch. Da rückt die Bedeutung des Gefängnisaufenthalts als Strafe immer weiter in den Hintergrund.

Wer aus dieser Abteilung entlassen wird, hat andere Probleme als jüngere Männer, die nach der Haft versuchen können, noch einmal neu anzufangen. Einige der Rentner müssen schauen, ob sie ein Altenheim finden, das Ex-Häftlinge aufnimmt. Manche wissen nicht, wie sie ihre Wäsche waschen sollen.

Maschendrahtzaun würde keinen Ausbruch verhindern

Für das Personal steht nicht die Kontrolle im Vordergrund, sondern die Betreuung und die Vorbereitung auf das Leben nach Verbüßung der Haft. Diesem Anliegen entspricht auch die Infrastruktur des Gebäudes, erklärt Frank Baucke: „Wir haben nur verminderte Sicherung, also keine Mauern. Die Maschendrahtzäune würden keinen Ausbruch verhindern.“

Ein Teil der Männer war noch nie in Haft. Für sie ist es besonders schwer, sich im Alter in Gefangenschaft wiederzufinden. Einer dieser Häftlinge ohne Vorerfahrung arbeitet in der Bibliothek. Der Rechtsanwalt wurde wegen Beihilfe zum Betrug an einem Mandanten verurteilt. „Früher war ich öfters im Gefängnis, aber in anderer Funktion“, erinnert er sich. „Gefangener war ich nie.“ Der Experte für Steuerrecht beteuert seine Unschuld und will sich nach seiner Entlassung darum bemühen, seinen Namen reinzuwaschen. „Es ist schon ein Drama, wenn man seinen Job 35Jahre lang ohne Fehl und Tadel gemacht hat und dann so einen Schlag ins Gesicht bekommt, kurz vor der Rente.“