Quelle: Caritas - Sozialcourage - vom 20.11.2018

Von Andrea Hösch

Kriminell im Alter

"Es gibt hier zwei Kategorien“, erzählt der 66-jährige Werner L. „Für Ersttäter bricht eine Welt zusammen, wenn sie verhaftet werden. Wiederholungstäter, die oft mehr Zeit ihres Lebens drinnen als draußen verbracht haben, fühlen sich wie auf einer Kur.“ Vollzugsanstalt für Lebensältere in Bielefeld-Senne: Werner L. sitzt im schattigen Kirchencafé, umgeben von alten Bäumen und Grünflächen. Der Rentner gehört zur ersten Insassengruppe. Den Schock hat er überwunden. Seit elf Monaten ist er hier, genauso viele hat der Mann noch vor sich.

„Insolvenzverschleppung“, sagt er auf die Frage, was er Unrechtes getan habe. Werner L. zuckt mit den Schultern. Er habe die Arbeitsplätze in seinem Unternehmen retten wollen und es nicht übers Herz gebracht, seine Leute vor die Tür zu setzen. Das passiere ihm keinesfalls noch mal, sagt er. Die Runde grinst. Um den Tisch sitzen notorische Ohne-Führerschein- und Schwarzfahrer, Steuerhinterzieher, Betrüger, Wirtschaftskriminelle. „Große Konzerne operieren mit Briefkastenfirmen, schaffen ihre Vermögen in Steuerparadiese und kommen ungeschoren davon“, ereifert sich einer der Männer. „Wenn Mittelständler das machen, landen sie hier in der Senne.“

Mehr Ruhe für ältere Häftlinge

„Die meisten dachten: Wird schon gut gehen. Doch irgendwann werden sie eben doch ertappt“, sagt Freizeit-Koordinator Frank Baucke, der Kulturveranstaltungen im und auch außerhalb des Gefängnisses organisiert. Er versichert, dass zunächst alles versucht werde, eine Haftstrafe zu vermeiden, schließlich koste ein Tag hinter Gittern 137 Euro. „Wir haben doch gar keine Gitter vor den Fenstern“, fällt ihm Werner L. ins Wort. „Das ist ein ganz anderes Gefühl.“

Tatsächlich können sich die Männer den ganzen Tag frei auf dem Gelände bewegen, haben Ausgang, Urlaub, können sogar ihrer Arbeit nachgehen, sofern sie eine haben. Ein Insasse darf beispielsweise jedes Wochenende nach Hause fahren, um seine Frau zu pflegen. Auch sonst ist einiges anders auf der Abteilung für über 60-jährige Häftlinge: Die Zellen teilen sich maximal zwei Mann, es gibt altersgerechte Betten, Haltegriffe in den Sanitärräumen, Aufzüge, medizinische Versorgung, Schwimm- und Kochkurse sowie Selbsthilfegruppen. „Die Lebensälteren haben andere Bedürfnisse, sie brauchen mehr Ruhe“, sagt die Anstaltsleiterin Kerstin Höltkemeyer-Schwick. Sie berichtet, dass in den beiden Seniorenabteilungen mit insgesamt 87 Haftplätzen weniger Aggressivität oder körperliche Gewalt herrsche, dafür komme es aber durchaus öfter zu Reibereien und Missgunst. Schon zuvor hat Höltkemeyer-Schwick in der JVA Detmold eine Seniorenabteilung eingerichtet. Mit Erfolg: Bei den Lebensälteren im offenen Vollzug – dorthin kommt, wer bis zum Urteil auf freiem Fuß sein durfte – liegt die sogenannte Versagensquote unter 0,1.

Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen gehen voran, andere Bundesländer werden nachziehen. Denn: „Der demografische Wandel macht vor dem Justizvollzug nicht halt“, sagt die Anstaltsleiterin. Das heißt: Es gibt immer mehr ältere Menschen und damit auch mehr ältere Straftäter. Und Alter schützt vor Strafe nicht: Manche kommen mit Rollator, manche im Rollstuhl. Viele sind krank, leiden an Diabetes, haben Herz-Kreislauf- oder Stoffwechselstörungen. Täglich werden jede Mengen Pillen ausgegeben. Nierenkranke werden sogar dreimal in der Woche zur Dialyse gefahren. Doch es gibt Grenzen: „Wenn Insassen pflegebedürftig oder dement werden, können sie nicht bleiben, dafür sind wir nicht ausgerüstet“, sagt Höltkemeyer-Schwick. Dann müssen sie in ein Vollzugskrankenhaus oder in ein Vollzugspflegeheim verlegt werden. Auf eine Gnadenentlassung dürfen nur lebensbedrohlich Erkrankte hoffen. Längst nicht alle wissen, ob sie noch einmal in Freiheit leben dürfen. Denn der Alterungsprozess schreitet im Vollzug schneller voran.

„Das Thema Sterben und Tod treibt hier fast alle um“, weiß die evangelische Seelsorgerin Elisabeth Biermann, die zusammen mit ihrer katholischen Kollegin die Gefangenen betreut. Die beiden reden viel mit Insassen über Perspektiven nach der Haft, über Angehörige, Einsamkeit und Ängste. „Ich gebe den Männern keine Ratschläge oder Lebenshilfe“, sagt Biermann. „Unsere Aufgabe ist es, die Situation mit ihnen auszuhalten und ihnen zu sagen, dass Gott an sie glaubt und sie nicht aufgibt.“

Hier verkümmert mancher

Um durchzuhalten, braucht es Kraft, Lebenswillen und Zuversicht. Manche drehen täglich ihre Runden im Park, um sich fit zu halten. Sie genießen die großzügige Anlage, einst eine Lungenheilanstalt, die alten Bäume, das Vogelgezwitscher, den blauen Himmel. „Eine solche Umgebung wirkt heilend, das ist wissenschaftlich erwiesen“, sagt die Seelsorgerin. Der geschlossene Vollzug sieht anders aus: 23 Stunden Einschluss, eine Stunde Hofgang, umgeben von hohen Betonmauern. „Wer so leben muss, verkümmert innerlich“, sagt Biermann. Das wissen alle. Genauso klar ist, dass bei Fehlverhalten der Wechsel in die geschlossene Abteilung droht. Häftlinge, die sich nicht kooperativ und gemeinschaftsfähig zeigen, Regeln und Absprachen nicht respektieren, müssen umziehen. Das will natürlich keiner der Senioren. Denn auch in der Unfreiheit haben die Lebensälteren viel Freiheit zu verlieren.

Wer das Rentenalter erreicht hat, muss nicht mehr arbeiten, kann es aber. Im Café, in der Malerei, der Gärtnerei, der Tischlerei, der Schlosserei oder der Wäscherei. So wie Werner L. – er ist für die Privatwäsche zuständig und hat dadurch 80 bis 100 Euro im Monat zur Verfügung. Die Aufgabe hilft, den Tag zu strukturieren, gibt Halt und stärkt das Selbstbewusstsein. „Manche entdecken erst im Gefängnis, was sie können“, sagt die Seelsorgerin Biermann.

Werner L. lässt sich nicht hängen. Warum sollte er? Seine Strafe ist überschaubar, zu Hause warten Frau, Kinder und Enkel auf ihn. Mehr noch: Er sorgt auch dafür, dass andere sich nicht hängen lassen: „Wenn ich merke, dass sich einer überhaupt nicht blicken lässt, gehe ich ganz direkt auf ihn zu und frage ihn, was los ist“, erzählt der 66-Jährige gemäß seinem Motto: „You get what you give“ – du bekommst, was du gibst.

Und wenn draußen niemand wartet?

Auf wen nach der Entlassung aber weder Familie noch Wohnung wartet, der läuft Gefahr, sich zu vernachlässigen, Kontakte zu meiden, das eigenständige Leben zu verlernen. „Aus Verzweiflung klauen manche kurz vor ihrer Entlassung im Drogeriemarkt einen Deostift, damit sie bleiben dürfen“, erzählt die ehrenamtliche Betreuerin Maria L., die regelmäßig Insassen bei Ausgängen begleitet. Ihren richtigen Namen will die Rentnerin nicht nennen, da sie inkognito mit den Häftlingen unterwegs sein will. Sie fragt niemanden, warum er im Gefängnis sitzt, lässt die Männer erzählen und hört zu. Oder schweigt mit ihnen, wenn sie nicht reden wollen. Auch Werner L. war zu Anfang mit ihr draußen. Er erzählte ihr, dass es im Knast mehr ums Überleben als ums Leben gehe, dass er finanziell zwar keine großen Sprünge mehr machen könne, aber zufrieden sei und sich darauf freue, seine Enkel aufwachsen zu sehen. Das sei ihm bei seinen eigenen Kindern verwehrt geblieben, weil er beruflich immer weg gewesen sei. „Es gibt Schlimmeres“, sagt der Rentner und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Manche nicken stumm. Einer erzählt vom jüngsten Neuzugang: Erst vor ein paar Tagen wurde ein 85-Jähriger eingewiesen, der sich zusammen mit seiner depressiven Frau in einem Auto vergiften wollte. Weil es nicht klappte, erwürgte der Mann seine Frau. Er selbst überlebte und muss nun wegen Totschlags fünf bis sechs Jahre in Haft. Was für ein tragischer Fall!