Zeitungsartikel Westfalen-Blatt vom 08.07.2015 Ein Haus für alle Menschen Quelle: Westfalen-Blatt vom 08.07.2015


Von Hendrik Uffmann

Bielefeld(WB). »Das passt ja«, platzt es spontan aus Behcet heraus. Mit einem leicht schiefen Lächeln schaut der 37-Jährige auf das Foto, das einen Elefanten hinter den Gittern seines Zoos-Geheges zeigt. Das Foto gehört zur aktuellen Kunsthallen-Ausstellung, die sich um das Suchen und Finden des Glücks dreht. Und Behcet sitzt derzeit selbst hinter Gittern.

Dass er dennoch das Museum besuchen kann, liegt am Engagement von ehrenamtlichen Helfern des Kreis 74. Seit mehr als 40 Jahren ist der Verein in der Straffälligenhilfe aktiv. Dazu gehören unter anderem auch Ausflüge aus dem Gefängnis für Insassen, denen diese erlaubt sind.

Seit fünf Jahren ist auch Nele Oelschläger im Kreis 74 aktiv. Die 34-Jährige ist Kunsthistorikerin und leitet freiberuflich Führungen durch die Kunsthalle. »Als ich beim Kreis 74 angefangen habe, kam die Idee, auch Führungen für die Gefangenen anzubieten«, erzählt sie.

Zu jeder Ausstellung hat sie dies seitdem getan – nun also auch zu »Serendipity – vom Glück des Findens«. Sechs Strafgefangene aus dem Hafthaus in Ummeln sind von Natalia Altenhof und Wolfgang Groß, ebenfalls Ehrenamtliche des Kreis 74, von dort mir ihren Autos abgeholt worden.

Erster Besuch

Für Behcet ist es das erste Mal in seinem Leben, dass er ein Museum besucht. Und er ist beeindruckt. »Ich bin selbst überrascht, aber es gefällt mir sehr gut hier«, sagt der 37-Jährige, nachdem Nele Oelschläger der Gruppe im Foyer eine kurze Einführung in die Ausstellung gegeben hat und nun mit den Strafgefangenen in der ersten Etage in dem Raum steht, in dem die Besucher selbst aktiv werden können.

Die »Magazine« des Foto-Künstlers Jörg Sasse stehen dort. In ihnen hat er zufällig gesammelte Bilder nach verschiedenen Kategorien sortiert und archiviert. Reihum entscheiden die Häftlinge, an welcher Wand des Raums sie aus diesem Fundus neue Bilder nach den Vorgaben des Künstlers aufhängen wollen und aus welcher Kategorie die Bilder stammen sollen. Sie entscheiden sich spontan für »Zuhause«.

Bilder von Zuhause

Und neben Familienszenen aus den 70er Jahren gehört dazu eben auch das Bild des Elefanten. Nele Oelschläger zieht weiße Handschuhe an, während sie die Bilder umhängt. »Du würdest ja auch keine Fingerabdrücke hinterlassen wollen«, sagt Mark (42) schelmisch grinsend zu einem anderen Mitglied der Gruppe.

Wegen Betruges muss er drei Jahre absitzen, erzählt er offen, zwei Monate davon hat er hinter sich. »Und ich habe die Strafe zu Recht bekommen«, betont er. Kunst habe ihn schon immer interessiert, Museen und Ausstellungen habe er früher häufiger besucht, außerdem interessiere er sich für Fotografie. »Deswegen habe ich mich sofort beworben, als dieser Ausflug angeboten wurde«, erzählt der 42-Jährige.

Lebhaftes Gespräch

Es dauert nicht lange, und er und auch Behcet kommen mit der Kunsthistorikerin ins Gespräch über das Konzept der Ausstellung. »Dass man auch so normale Bilder zusammenstellen kann, dass Kunst dabei herauskommt, das hätte ich nicht gedacht. Aber es gefällt mir sehr gut«, meint Behcet. Vor allem, direkt hier sein zu können. »Sonst sehe ich ja so was nur im Fernsehen.«

Noch bis Dezember ist er wegen Beschaffungskriminalität in Haft. Was ihn dann erwartet, weiß er noch nicht. »Meine Eltern sind zurück in die Türkei. Und ich hab’ keine Ahnung, wie ich eine Wohnung finden soll«, erzählt er. Doch er wolle sein Leben nun in den Griff bekommen, besuche im Gefängnis unter anderem einen Deutschkurs, der Unterricht mache ihm viel Spaß. »Ich will meine Zeit in Haft nicht verschwenden. Deswegen freue ich mich auch über einen Ausflug wie diesen.«

Für Mark scheint dieser auch Teil einer Strategie zu sein, mit der er die Jahre im Gefängnis möglichst gut überstehen will. »In der JVA hat man extrem viel Zeit um nachzudenken. Draußen hingehen ist Zeit immer kostbar. Jetzt habe ich Gelegenheit, Bücher zu lesen und über mein bisheriges Leben nachzudenken«, sagt der eloquente 42-Jährige.

Während sich die Gruppe mit Nele Oelschläger unterhält, schaltet sich auch ein anderer Besucher in das Gespräch ein. Gemeinsam denken sie über die Kunst nach – wer aus dem Gefängnis kommt und wer »normaler« Besucher ist, scheint in dem Moment unwichtig.

Blick in die Freiheit

Mehr als eineinhalb Stunden führt die Kunsthistorikerin die Strafgefangenen durch die Kunsthalle und kommt dabei auch in ihren Lieblingsraum, wie sie sagt – in den Saal, dessen bodentiefe Fenster zum Kunsthallenpark hin zeigen. Einen kurzen Moment herrscht Schweigen bei allen Häftlingen, scheint jeder seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, während er hinaus in die Freiheit schaut.

Gut gelaufen sei die Führung, findet Nele Oelschläger, nachdem die Gruppe wieder auf dem Rückweg in die JVA ist. Zu Beginn habe sie ein wenig Bedenken wegen des Themas gehabt – vielleicht sei es etwas merkwürdig, Menschen, die momentan in einer unglücklichen Situation sind, etwas vom Glück des Findens zu erzählen. »Aber für mich sind die Häftlinge nicht ausschließlich Straftäter, sondern Menschen, die eine Straftat begangen haben«, so Nele Oelschläger. Und vor allem gefalle ihr bei diesen besonderen Führungen der Gedanke der Kunsthalle als offenes Haus. »Das Museum sollte ein Ort der Begegnung und des Austauschs sein. Für alle Menschen.«