Zeitungsartikel Neue Westfälische vom 26.08.2015 Zweimal Lebenslänglich Quelle: Neue Westfälische vom 26.08.2015


VON JONAS DAMME

Senne/Ummeln. Ein blinder Pfarrer im Knast: Ist das nicht ein Problem? Wenn es nach Heinrich Bittner geht, überhaupt nicht. Seit 32 Jahren beschäftigt sich der mittlerweile 63-Jährige mit den Problemen der Gefängnisinsassen. Angst, dass jemand seine Schwäche ausnutzen könnte, hat er nicht.

Wegen seiner Sehbehinderung könnte Heinrich Bittner dieses Jahr, mit 63 Jahren, in den Ruhestand gehen. Will er aber nicht. „Eigentlich hätte ich schon nach meiner Erblindung 2009 gehen können, das wollte ich aber auch nicht. Sonst hätte ich das Gefühl gehabt, ich knicke ein“, sagt Bittner.

Ähnlich geht es ihm jetzt: Früher als Andere aus dem Job, das ist keine Option. Dabei hätte bei seinem Beruf wohl jeder Verständnis dafür: Pfarrer Heinrich Bittner ist katholischer Gefängnisseelsorger der JustizvollzugsanstaltSenne.Sein Büro und seine „Kirche“ liegen im Hafthaus Ummeln. Gemeinsam mit mehreren Kollegen betreut er die mehr als 1.500 Insassen, inklusive der rund 100 Frauen. Bereits seit 32 Jahren – also mehr als doppelt so lange als die Mindeststrafe eines Lebenslänglichen währt – hört er sich dort die Sorgen der straffällig Gewordenen an. Auch nach seiner tumorbedingten Erblindung 2009 sah er keinen Grund, damit aufzuhören.

Angst vor seinen Gesprächspartnern hatte er nie, sagt er. „Mir passiert nix“, sagt Bittner und tut die Sorgen um seine Person mit einer Handbewegung ab. „Vor 32 Jahren hatte ich keine Angst und heute auch nicht.“ Dabei ist er regelmäßig mit Unbekannten zusammen, die ihm von ihren Krisen berichten.

Ihre Themen sind weit gestreut. „Das sind oft Alltagssorgen“, so Bittner. „Ganz praktische Fragen, wie: Was mache ich nach der Entlassung? Aber auch Trauerbewältigung gehört dazu.“ Im Gefängnis über den Verlust eines Familienmitgliedes zu trauern, sei nicht einfach. Gerade wenn man vieles mit sich allein ausmachen müsse. Religion spiele oft nur eine untergeordnete Rolle. „Nicht alle, die zu mir kommen, sind Katholiken. Das ist eher eine Typfrage. Die wissen: Der Bittner macht nicht einen auf überfromm“, sagt der 63-Jährige lächelnd. Stattdessen sei er sehr direkt. „Das tut auch manchmal weh, aber das wollen die Leute wissen.“

Mit einer Anekdote beschreibt Bittner sein unmittelbares Verhältnis zu den Gefangenen: Vor einigen Jahren sei er durch die Pforte gekommen und einem Neuen begegnet. „Der fragt: ,Wie lange biste denn schon drin?’ Da hab ich geantwortet: ,28 Jahre.‘“ Später habe er den Neuling aber aufgeklärt, dass er kein Mithäftling, sondern der Seelsorger ist.

Zu Bittners Aufgaben gehört neben den Einzelgesprächen auch die heilige Messe. Offensichtlich sehr erfolgreich feiert er sie jede zweite Woche. „Prozentual sind wir hier besser besucht als die Kirchen außerhalb der Mauern“, sagt er. „Wir haben immer so zwischen 12 und 30 Männern bei der Messe.“ Bei weniger als 400 Gefangenen im Hafthaus – von denen rund 100 nicht frei auf dem Gelände umherlaufen dürfen, also nicht in die Messe kommen können – ein erheblicher Anteil. Allerdings schwanke das Interesse. Warum das so ist? „Da kommt man nicht hinter.“ Abgehalten wird die Messe im sogenannten Knastcafé, ebenso wie der evangelische Gottesdienst. „Und wenn Moslems beten wollen, müssen sie das auch dort tun.“ Dass es am Ende regelmäßig belegte Brötchen gibt, könnte auch zur Beliebtheit seiner Messen beigetragen haben.

Hauptsächlich scheint er aber genau die Sorgen seiner Zuhörer zu treffen: Es gibt ein wiederkehrendes Thema in Heinrich Bittners Predigten. „‚Lass dich nicht in eine Rolle drängen‘, sag ich jedem vor seiner Entlassung.“ Niemand solle sich selbst als„Ex-Knacki“sehen, mit dem sowieso nichts mehr anzufangen ist. „Man entscheidet selbst, wer man ist.“ Und diesenRatlebtHeinrichBittner vor, indem er die Erwartungen an einen blinden Pfarrer jeden Tag aufs Neue nicht bestätigt.

INFO

Größte Haftanstalt Deutschland

Mit 1.645 Haftplätzen, davon 1.543 Plätzen für Männer und 102 Haftplätzen für Frauen, ist die Justizvollzugsanstalt (JVA) Senne nach der Zahl der Haftplätze die größte Justizvollzugsanstalt Deutschlands und die größte offene Anstalt Europas.

Sie besteht aus dem Hafthaus Senne (zugleich Sitz der Verwaltung) mit 161 Haftplätzen, dem Hafthaus Ummeln mit 363 Haftplätzen und 16 Außenstellen.

Mehr als 420 Mitarbeiter sind in der JVA beschäftigt, davon zwei Anstaltsärzte, sieben Psychologen, 15 Sozialarbeiter und vier Seelsorger.